Im Wettbewerb um Fachkräfte spielen Unternehmenskultur und Gesundheitsmanagement eine zentrale Rolle. Will sich ein Unternehmen zukunftsgerichtet positionieren, bedarf es eines Gesundheitsmanagements, das in die Unternehmenskultur integriert ist. An der nationalen Tagung für betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) von Gesundheitsförderung Schweiz tauschten sich Fachpersonen aus Wissenschaft und Praxis über Herausforderungen und Lösungsansätze aus.
Nationale Tagung für betriebliches Gesundheitsmanagement,
24. August 2016, Zürich
Dieser Austausch über die täglichen Herausforderungen im Berufsalltag ist wichtig und richtig. Doch wie schaffen Unternehmen ein motivierendes Umfeld, worin Mitarbeitende bereit sind, Überdurchschnittliches zu leisten, ohne sich dabei zu verausgaben? Beeinflussen innovative Ansätze wie die «demokratische Unternehmensführung» nicht nur die Unternehmenskultur, sondern auch das Gesundheitsmanagement? Und wie gelingt die Integration des Gesundheitsmanagements in die Unternehmenskultur?
Norbert Thom, ehemaliger Direktor des Instituts für Organisation und Personal (IOP) der Universität Bern, sieht im Begriff «Kultur» ganz unterschiedliche Ausprägungen und Erwartungen, die viel Anlass zu Grundsatzdiskussionen bieten. «Kultur ist auch eine Form der Selbstverständlichkeit.» Und genau das ist das Ziel des integrierten BGM. «Diese Selbstverständlichkeit bedarf keiner Labels oder Auszeichnungen», so Thom über sein Verständnis von kultureller Integration. «Diese Verankerung ist eine grosse Herausforderung für das BGM – aber auch eine entsprechend grosse Chance.»
Leistung nicht um jeden Preis
Es gehört zu den Grundwerten eines jeden Unternehmens, dass sich die Führung mit der Reflexion der Beziehung zwischen ökonomischen und gesundheitlichen Werten befasst und sich dazu grundlegende Gedanken machen muss. Eine Erkenntnis daraus, so Thom, sei, dass ein Unternehmen auf ökonomische Vorteile verzichten sollte oder gar muss, wenn damit gesundheitliche Schäden der Mitarbeitenden verbunden sind. Das klingt banal, doch ist dies längst nicht in allen Unternehmen angekommen. Gleichzeitig ist aber auch jedes Individuum in der Verantwortung, einen achtsamen Umgang mit der eigenen Gesundheit zu pflegen.
Norbert Thom, Prof. em. Dr., ehemaliger Direktor des Instituts für Personal und Organisation (IOP) der Universität Bern
In Bezug auf die Arbeits- und Beziehungsorganisation sprechen gemäss Thom Forschungsarbeiten eine klare Sprache: Eine ganzheitliche, sinnstiftende und abwechslungsreiche Arbeit mit Entwicklungschancen hat einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der Mitarbeitenden. Damit Menschen sich entsprechend entfalten können, braucht es individuell festgelegte Handlungs- und Entscheidungsspielräume, ein klares Rollenverständnis, angemessene Partizipationsmöglichkeiten und eine flexible Gestaltung von Arbeitszeiten und Arbeitsorten.
Der Mensch macht Kultur
Thom fügt hinzu, dass HR-Verantwortliche gemäss ihren eigenen Angaben oftmals über sehr gute operative Kompetenzen im Unternehmen verfügen. In strategische Überlegungen fühlen sie sich hingegen oft zu wenig miteinbezogen. Auch betriebliche Ressourcen spielen eine wichtige Rolle. Es bedarf beispielsweise einer zeitgemässen IT-Infrastruktur, die ein ortsunabhängiges Arbeiten ermöglicht, ein Controlling-System für BGM-Massnahmen sowie personelle Ressourcen, um das BGM effektiv umzusetzen. Gegenseitige Wertschätzung und stabile Sozialstrukturen sind weitere wichtige Voraussetzungen der Beziehungsorganisation von Organisationseinheiten. Hingegen sind permanente Reorganisationen alles andere als dienlich, um ein optimales Arbeitsumfeld zu schaffen, so Thom.
«Wer etwas mit Freude tut, der leistet mehr»
Das Schweizer Traditionsunternehmen Trisa setzt viel daran, die Mitarbeitenden in die Unternehmensgestaltung miteinzubeziehen und dadurch die kulturellen Werte aktiv zu stärken. Trisa ist ein Familienbetrieb im luzernischen Triengen in vierter Generation. Heute produziert das Unternehmen über 1 Mio. Zahnbürsten – pro Tag. Das ist nur mit einer enorm hohen Automatisierungsquote möglich. Und das wiederum verlangt optimal aufeinander abgestimmte Prozesse. Ernst Pfenniger, Gründer von Trisa, antwortete 1964 auf die Frage, was die Aufgabe des Unternehmers sei: « Er soll Arbeit schaffen und Freude an dieser Arbeit vermitteln. Denn wer mit Freude etwas tut, der leistet mehr».
Lucien Baumgaertner, Leiter Human Resources der Trisa-Gruppe, beleuchtete das Thema «Betriebskultur» aus der Perspektive des Praktikers. Das Familienunternehmen ist seit jeher bemüht, der Philosophie des Firmengründers gerecht zu werden: Der «Trisa-Spirit», wie das Unternehmen stets betont, basiert auf klassischen Grundsätzen wie Vertrauen, Wertschätzung, Respekt, gegenseitigem Interesse und einer offenen Gesprächskultur. Das geht soweit, dass sämtliche 1‘147 Mitarbeitenden der Trisa Gruppe Mitinhaber sind. Unabhängig von der Funktion und Position im Unternehmen, sind alle Mitarbeitenden zu gleichen Teilen am Unternehmen beteiligt. Der CEO hat somit gleich viele Aktien wie der Mechaniker. «Diese Form der Partizipation existiert bei uns seit 1972. Seitdem ist übrigens auch unser Verwaltungsrat paritätisch besetzt», erklärt Lucien Baumgaertner die Philosophie des mit Zahnbürsten bekannt gewordenen Betriebs.
Mitarbeiter trägt Mitverantwortung
Das BGM bei Trisa basiert auf drei Säulen: Prävention, Lenkung & Controlling und Care Management. Trisa bietet den Mitarbeitenden klassische präventive Massnahmen wie gesunde Ernährung, Schulungen oder Fussballturniere an. Doch Baumgaertner appelliert in Bezug auf die präventiven Anstrengungen von Trisa auch an die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden: «Was bringt Turnen und Yoga im Unternehmen, wenn der Mitarbeiter nach Hause geht und sich täglich 3 Biere und einen Sack Chips gönnt?»
Lucien Baumgaertner, Leiter Human Resources, TRISA AG, Triengen
Bei der Lenkung und dem Controlling sind die Führungskräfte angesprochen. An ihnen liegt es, in regelmässigen Gesprächen den Puls der Mitarbeitenden zu fühlen und situativ darauf einzugehen. «Aber auch Gespräche zur Mitarbeitendenentwicklung und klare Zielsetzungen sind ein wichtiges Instrument», so Baumgaertner. «Die grosse Herausforderung ist es, den Mitarbeitenden die Angst vor solchen Gesprächen zu nehmen. Das erreichen wir, indem wir unsere Kollegen transparent und persönlich ansprechen.» Im Care Management geht es darum, dass im Falle von körperlichen oder psychischen Einschränkungen eine zeitlich beschränkte Reduktion der Arbeitszeit oder die Versetzung an einen Schonarbeitsplatz, der speziell eingerichtet ist, als Lösung realisiert wird. Ebenfalls besteht für die Mitarbeitenden die Möglichkeit, den Betriebsarzt bei Beschwerden kostenlos zu konsultieren.
Sinnstiftende Arbeit als Motivator
«Wann macht Arbeit glücklich?» Diese Frage stellte Véronique Lagrange, Leiterin Mobilität bei den Föderalen öffentlichen Diensten in Brüssel. Die Antwort lieferte sie gleich selber: «Wenn Arbeit Sinn stiftet, Vergnügen bereitet und die Mitarbeitenden mit Stolz erfüllt». Ein hohes Ziel, das in der Praxis alles andere als leicht zu erreichen ist, wie ihre Beispiele aus dem Alltag einer ausgesprochen hierarchisch organisierten öffentlichen Verwaltung zeigten.
Véronique Lagrange, Leiterin Mobilität und Transportwesen, Brüssel, Belgien
Selbstverantwortung, betonte sie, beginne mit kleinen Schritten. Gerade die öffentliche Hand ist sehr strukturiert, jedoch beruhen diese Prozessorganisationen auf jahrelangen, teils aus Gewohnheit institutionalisierten Gepflogenheiten. In Betrieben der öffentlichen Hand sind eingeschliffene Gewohnheiten besonders zäh. »Ich musste feststellen, dass vermeintliche Selbstverständlichkeiten alles andere als selbstverständlich sind», stellte Lagrange fest. So wagten es viele Mitarbeitende nicht, Arbeit von Kolleginnen und Kollegen zu übernehmen. Zu stark war die Gewohnheit, Befehle von oben zu empfangen. Allmählich kam doch ein Kulturwandel in Gang, der hauptsächlich durch ein Umzugsprojekt ausgelöst wurde. «Der ganze Prozess brauchte sehr viel Energie. Umso schöner ist es zu sehen, dass diese sinnvoll investiert wurde», so Véronique Lagrange rückblickend.
«Das imperative Verlangen ‚bleib gesund‘ ist eine Perversion»
Einen Kontrapunkt setzte der Psychiater und Coach Michael Sonntag. Eine Verankerung neuer BGM-Ansätze in herkömmliche Unternehmenskulturen ist für ihn völlig undenkbar. In seiner Rolle als «Enfant terrible» sagte er, dass die vorherrschenden Managementsysteme ohne radikalen Wandel nicht gesunden können. Das vorherrschende Managementsystem ist immer noch geprägt vom klassischen Organigramm, wie es Frederic W. Taylor 1911 entwickelte: Kontrolle von oben nach unten. Doch dieses lineare Denken ist nach Sonntag nicht mehr effizient. Es lässt keinen Raum für Neues und erstickt jegliche Kreativität im Kern. Sonntag ist der Überzeugung, dass Systeme untereinander interagieren und voneinander abhängig sind. Daraus entsteht schliesslich Neues – nicht nur Produkte, sondern auch neue Arbeitsweisen.
Michael Sonntag, Dr. med., Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, Sonntag Consulting, Bern
Hingegen hält Sonntag das imperative Verlangen an die Mitarbeitenden ‚bleib gesund‘ schlichtweg für eine "Perversion». Es brauche ein Umdenken, Platz für neue Ideen: Co-created-value heisst das Stichwort. So müssen künftig vielmehr die Gemeinwohl-Ökonomie und Co-working-Konzepte im Vordergrund stehen. Dabei verwies er auf Konzepte von jungen Unternehmen aus Nordamerika, die zeigen, dass mit diesen neuen Ansätzen das Wohlbefinden aller Involvierten spürbar steigt.
Eigenverantwortliches Handeln mittels Strukturen stützen
Co-working Spaces, also Gemeinschaftsbüros mit unterschiedlichen Firmen, spriessen derzeit auch in der Schweiz wie Pilze aus dem Boden. Offenbar besteht das Bedürfnis, sich bei der Arbeit mit Kollegen ganz unterschiedlicher Branchen unverbindlich, aber dennoch intensiv auszutauschen. Diese neue Form von «Grossraumbüro» bietet genau diesen Raum, in dem neue Ideen und Projekte entstehen.
Gudela Grote, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der ETH Zürich, untersuchte mit ihrem Team, was geschieht, wenn wir die Arbeit künftig selber gestalten. Wird sie gesünder, besser oder ineffizienter? Job Crafting heisst hier das Zauberwort. Gewiss, theoretisch könnten wir alles selber machen: eine eigenverantwortliche Arbeits- und eine selbstgesteuerte Laufbahngestaltung bis hin zu ökonomisch orientierten psychologischen Arbeitsverträgen. Doch schafft diese Form der demokratischen Unternehmensführung auch mündige «Bürgerinnen und Bürger» bzw. Mitarbeitende? Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation basiert auf der Grundannahme, dass jeder Mensch ein hohes Bedürfnis nach Autonomie, Kompetenz und Zugehörigkeit hat. Ein Gedanke, der aus der Entwicklungstheorie stammt.
Gudela Grote, Prof. Dr., Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie, Departement Management, Technologie und Ökonomie, ETH Zürich
Der neu geschaffene Freiraum im Job Crafting hat viele positive Aspekte. Doch Gudela Grote ergänzt, dass er durchaus negative Auswirkungen auf andere Beschäftigte haben kann. Dann nämlich, wenn es dadurch zu Verschiebungen von Anforderungen und Ressourcen kommt. Anders gesagt: Wenn der Mitarbeitende seine Arbeit selber gestalten kann, müssen unter Umständen seine Arbeitskolleginnen und -kollegen Teile der weggelassenen Arbeit übernehmen. Dazu kommt, dass oftmals Mitarbeitende mit einer per se monotonen Arbeit diese noch einseitiger gestalten. Auf Mitarbeitende mit einer bereits guten Arbeitsgestaltung wirkt sich das Job Crafting hingegen sehr positiv aus.
Job Crafting kann betriebliche Arbeitsgestaltung ergänzen, aber keinesfalls ersetzen. Das eigenverantwortliche Handeln kann nur dann erfolgreich sein, wenn es durch ökonomische und betriebliche Strukturen innerhalb des Unternehmens gestützt wird. Das birgt durchaus ein Konfliktpotenzial, dem die Führungskräfte Rechnung tragen müssen.
BGM ist dann erfolgreich, wenn es gelebt wird
Zum Abschluss der Tagung referierte Georg Bauer, Abteilungsleiter am Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention an der Universität Zürich, über die unaufhaltsame Digitalisierung der Gesellschaft und die Entstehung neuer Rollenbilder. «Wir beobachten, dass sich selbstbestimmte und flexible Arbeitnehmende immer mehr selbstverwirklichen möchten und dadurch auch die Demokratisierung der Wirtschaft fördern», so Bauer.
Georg Bauer, PD Dr., Abteilungsleiter, Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention, Universität Zürich
Wie also positionieren sich Unternehmen langfristig erfolgreich? Die Unternehmenskultur beschreibt, gemäss Bauer, die Grundgesamtheit gemeinsamer Werte, Normen und Einstellungen, welche die Entscheidungen, die Handlungen und das Verhalten der Organisationsmitglieder prägen. Auf der anderen Seite umfasst das Gesundheitsmanagement die systematische Gestaltung betrieblicher Strukturen und Prozesse mit dem Ziel, die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden nachhaltig zu optimieren. Ein erfolgreiches BGM zeigt sich in der gelebten Unternehmenskultur. Diese beiden Kulturen müssen künftig mehr aufeinander abgestimmt werden. «Das BGM muss stetig weiterentwickelt und optimiert werden, währenddessen die Unternehmenskulturen unter Berücksichtigung von neuen Einflüssen und Erkenntnissen erneuert werden müssen.» Damit werden neue Strukturen und Opportunitäten geschaffen, damit Unternehmen Mitarbeitenden ein optimiertes Arbeitsumfeld bieten können, von dem schlussendlich alle profitieren.
Autor: Diego Oppenheim, open up