Was läuft in der Gesundheitsförderung im Alter im Tessin? Interview mit Angelo Tomada

Das Interview widmet sich gleich zwei «Minderheitenthemen»: dem kantonalen Aktionsprogramm (KAP) im Kanton Tessin als kleine Landesregion und dem Thema Männer. Sie sind als Nutzer und Akteure in der Gesundheitsförderung im Alter oft untervertreten. Angelo Tomada gibt beiden ein Gesicht. Dass «klein» gleich «fein» bedeuten kann und Minderheit kein Problem darstellen muss, erfahren Sie im Interview.

Ein Interview mit Angelo Tomada (AT), geführt von Claudia Kessler (CK)

CK: Herr Tomada, wie hat Sie Ihr beruflicher Werdegang dazu geführt, dort zu stehen, wo Sie heute arbeiten?

AT: Von Haus aus Geograph, hat mich eine Weiterbildung (PHD in Gesundheitskommunikation) vor etwa zwanzig Jahren in die Gesundheitsförderung und ins Gesundheitsamt des Kantons Tessin geführt. Seit acht Jahren widme ich mich spezifisch der Zielgruppe der älteren Menschen. Zu Beginn war es nicht einfach, mich in die Bedürfnisse der älteren Menschen einzudenken und zu -fühlen. Ich nahm diese persönliche, intellektuelle und berufliche Herausforderung aber sehr gerne an.

CK: Was motiviert Sie, sich für die Gesundheitsförderung im Alter einzusetzen?

AT: Wir kennen alle die demographische Entwicklung. Heute geht es weniger um eine weitere Erhöhung der Lebenserwartung als um andere Fragen, wie zum Beispiel: Wie können wir eine gute Lebensqualität in der langen Lebensphase nach der Pensionierung erhalten? Wie können wir zu «gutem Altern» beitragen? Ich beobachte auch heute noch eine defizitorientierte, krankheitsfokussierte Sicht auf das Alter bei Fachleuten und vielen älteren Menschen. Mir geht es um die Potentiale, die Ressourcen und die Gesundheit. Der salutogenetische Ansatz und die strategischen Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation geben mir ein Rüstzeug, um zu einer positiven Sicht auf diese Lebensphase beizutragen.

CK: In den anderen Landesteilen kennen viele der Akteure die Angebote im Kanton Tessin zum Thema Gesundheitsförderung im Alter nicht. Wie ich auf Ihrer Webseite sehe: Es läuft Vieles! Wie würden Sie die Schwerpunkte Ihres Programms beschreiben?

AT: Das Tessin hat eine lange Tradition im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Wir betrachten uns als Pioniere in den Bereichen Gesundheitsförderung und Prävention und sind stark geprägt von der Vision und dem Unternehmungsgeist von Prof. Gianfranco Dominighetti. Der Kanton engagiert sich seit den Achtziger-Jahren für die Gesundheitsförderung seiner Bevölkerung und arbeitet seit längerem in Partnerschaft mit Gesundheitsförderung Schweiz. Seit 2017 haben wir ein Kantonales Aktionsprogramm (KAP) für beide Zielgruppen: die Kinder und Jugendlichen und die älteren Menschen. In der ersten Phase lag der Schwerpunkt auf den Modulen A und B mit den Themenbereichen Bewegung, Sturzprävention und Ernährung. Für eine nächste Phase überlegen wir uns, ob die Förderung der psychischen Gesundheit auch ein Schwerpunkt werden soll.

Bei der Zielgruppe der älteren Menschen unterscheiden wir zwischen zwei Hauptgruppen: den autonomen, oft jüngeren und den fragilen Seniorinnen und Senioren. Für beide Gruppen entwickelten wir in Kooperation mit vielen Partnern und Gemeinden eine reiche Palette von Massnahmen und Angeboten. Wir können hier nicht auf alle eingehen. Aber als vielleicht für andere interessante «Müsterli» könnte man exemplarisch folgende Beispiele erwähnen:

  • Angebote für eine gesunde Ernährung im Alter, wo saisonale Rezeptvorschläge für ein kleines Budget dazugehören (siehe auch den Beitrag PIPA)
  • Massnahmen zur strukturellen Bewegungsförderung, wo zum Beispiel die Fitnessparks oder Kooperationen mit den Gemeinden dazugehören
  • Interdisziplinäre Massnahmen zur Sturzprävention, wo wir eng mit Akteuren aus dem Versorgungswesen zusammenarbeiten
  • Unsere diversen Aktivitäten im Bereich der Alkoholprävention, die für uns einen wichtigen Bestandteil der Gesundheitsförderung für ältere und jüngere Menschen darstellen – die Finanzierung läuft über andere Instanzen des Bundes

Auf der Ebene des Kantons haben wir also den Vorteil, dass wir mit Unterstützung von verschiedenen nationalen und lokalen Instanzen ein Gesamtpaket für die ältere Bevölkerung schnüren können.

CK: Auch im Kanton Graubünden gibt es italienischsprachige Gebiete. Wie läuft da die interkantonale Zusammenarbeit? Wie vernetzen Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen sich mit anderen Kantonen?

AT: Wir pflegen einen regelmässigen Austausch mit den Zuständigen im Kanton Graubünden. Eine Brücke schlägt auch unser wichtiger Kooperationspartner, die Pro Senectute Ticino und Moesano, welcher – wie es der Name schon sagt – auch für das Bündnerische Misox zuständig ist. Wir verteilen in unserem Kanton z. B. auch die italienische Ausgabe des Magazins Salute. Mit der restlichen Schweiz vernetzen wir uns vor allem über die Koordinationsplattformen der lateinischen Schweiz (CPPS) und die Vereinigung der kantonalen Beauftragten für Gesundheitsförderung (VBGF). Wir fühlen uns keineswegs als «Aussenseiter» und sind stolz auf den Beitrag, den wir aus unserer Region für die schweizerische Gesundheitsförderung im Alter leisten.

CK: Gesundheitsförderung Schweiz hat eine neue Auflage des Leitfadens «Wie erreichen wir Männer 65+?» veröffentlicht. Als Mann, welcher auf diesem Gebiet tätig ist: Wie deckt sich das mit Ihren eigenen Erfahrungen?

AT: Es gibt wichtige Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die in der Gesundheitsförderung im Alter berücksichtigt werden müssen. Wir stellen immer wieder fest, dass vorwiegend Frauen die Angebote nutzen. Die Gründe sind uns nicht immer klar. Zudem tendieren Männer eher zu einer Banalisierung von gesundheitsschädigendem Verhalten. Ein gutes Beispiel für Unterschiede in Bezug auf das Gesundheitsverhalten von älteren Männern und Frauen findet sich in unserem Kanton beim problematischen Alkoholkonsum. Es gibt ihn bei beiden Geschlechtern. Aber für Männer ist es heute im Tessin noch gesellschaftlich voll akzeptiert, morgens um neun mit dem ersten Glas Wein zu beginnen. Für Frauen wäre ein solches Verhalten stigmatisiert. Sie trinken auch, aber zuhause. Wir brauchen also andere Strategien, um ältere Männer und Frauen mit einem problematischen Konsumverhalten zu «sehen» und zu erreichen.

CK: Und zum Schluss nochmals eine persönliche Frage, wenn Sie erlauben: Wie fühlen Sie sich als Mann unter so vielen Frauen auf der Ebene der Akteure im Bereich der Gesundheitsförderung im Alter?

AT: Es stimmt, auch in unserem Team sind die Männer in der Minderzahl. Das sehe ich aber nicht als Problem. Unser gemischtes Team funktioniert gut. Wir wirken komplementär, jede und jeder mit dem, was er/sie mitbringt. Ich stimme mit den Aussagen im Leitfaden überein: Zwischen Männern und Frauen gibt es auch heute noch grosse Unterschiede, welche für die Gesundheitsförderung relevant sind – nicht nur im Verhalten, sondern auch auf der Ebene der Ressourcen und Potentiale. Es ist wichtig, dass sich ein Gesundheitsförderungsteam dieser Unterschiede bewusst ist und seine Arbeit danach ausrichtet.

Weiterführende Informationen:

Bild: Angelo Tomada in einer Sitzung mit Verantwortlichen des Dachverbands PIPA